"Der Schafslöwe" (ein Märchen)
|
05.11.2016, 10:11
|
|
|
Der Schafslöwe
Es war einmal eine Löwin mit einem neugeborenen Löwenjungen. Sie war hungrig und näherte sich einer Schafsherde in der Hoffnung auf ein gutes Abendessen. Aber ein Jäger hatte dort gelauert, zielte auf sie und erschoss sie. Das hilflose, verwirrte, schutzlose Löwenbaby erweckte das Mitleid einer Schafsmutter, die soeben ihr Schafjunges durch eine Fehlgeburt verloren hatte. So nahm die Schafsmutter das Löwenbaby als ihr Junges an und es wuchs in der Schafherde auf. Es lernte zu essen wie ein Schaf, zu blöken wie ein Schaf, wegzurennen, wenn Gefahr drohte – kurzum, es wuchs heran und wurde sozialisiert wie ein Schaf – ja sogar wie ein minderwertiges Schaf, denn die anderen, die wohl bemerkten, dass es anders war als sie, spielten ihm oft Streiche oder hänselten es. So war das Löwenjunge ein unglückliches, schüchternes Schaf geworden. Eines Abends kam der König der Tiere, der Berglöwe, aus den Bergen herunter. Als die Schafe ihn witterten, blökten sie alle in panischer Angst und stoben in wilder Flucht davon. Der Berglöwe sprang mitten unter sie und richtete dadurch noch größeres Entsetzen an. Aber er interessierte sich überhaupt nicht für die Schafe, die die beste Beute für ihn gewesen wären. Das einzige, was ihn interessierte, war der Schafslöwe. Er holte ihn bald ein, packte ihn am Nackenfell und schüttelte ihn ein paar Mal. Der Schafslöwe war gelähmt vor Angst. „Was machst Du hier“, knurrte ihn der Berglöwe scharf an. „Mäh, mäh, mäh, ich bin nur ein kleines, schwaches, junges Schaf, bitte tue mir nichts, sondern lass’ mich zu meiner Mutter. Mäh, mäh, mäh.“ „Was redest Du da für einen Unsinn? Wo ist denn deine Mutter?“ „Da vorne läuft sie, mit der Herde. Mäh, mäh, mäh, bitte lass mich los und tu’ mir nichts.“ „Was suchst Du hier unter den Schafen? Du, der Sohn des Königs der Tiere?“ „Mäh, mäh, mäh, ich habe Angst.“ „Hör’ auf zu blöken wie ein Schaf. Du bist kein Schaf, Du bist ein Löwe wie ich.“ „Nein, nein, ich bin ein armes kleines Schaf, bitte lass’ mich jetzt los, damit ich wieder zu meiner Mutter kann.“ „Hör’ endlich mit dem Unsinn auf. Du bist ein Löwe!“ „Ja, ja, das mag schon sein, aber bitte lass’ mich jetzt zu meiner Mutter. Mäh, mäh, mäh.“ Da packte der Löwe den Schafslöwen erneut am Schlafittchen, trug ihn zu einem kleinen See in der Nähe und hielt ihn über das Wasser. „Was siehst Du da?“ „Ich sehe überhaupt nichts. Mäh, mäh, mäh.“ „Mach’ gefälligst Deine Augen auf!“ „Ich kann immer noch nichts sehen“ „Schnauf’ nicht so unruhig, das gibt zu viele Wellen, da kannst du nichts sehen. Drei bis vier Sekunden tief in den Bauch einatmen, drei bis vier Sekunden ausatmen....“ „Gut. Was siehst Du?“ „Ich ..., ich sehe dich doppelt!“ Bewege mal deinen Kopf nach links und rechts. Noch mal. Was siehst Du?“ „Ein Bild bewegt sich, das andere nicht!“ „Also?“ Der junge Schafslöwe schaute den großen Berglöwen an, dann schaute er wieder ins Wasser. Dann bewegte er sich wieder etwas, legte den Kopf zur Seite, hob die Pfote, schaute wieder den Berglöwen an, sah jetzt auch, dass das andere Spiegelbild im Wasser größer war als seines. Und allmählich, obwohl er es anfänglich kaum glauben konnte, erkannte der kleine bisher so ängstliche und schüchterne Schafslöwe, der von den Schafen herum gestoßen worden war: „Ich bin ein Löwe. Ich bin frei. Ich bin stark.“ Und fortan blökte er nie mehr wie ein Schaf, sondern brüllte wie ein Löwe. |
|
|
27.01.2017, 20:40
|
|
|
RE: "Der Schafslöwe" (ein Märchen)
Schöne Geschichte, Ama. Nur frage ich mich gerade, was passieren würde, wenn es um ein Lamm ginge, das von einer Löwin großgezogen wird...
|
27.01.2017, 21:00
|
|
|
RE: "Der Schafslöwe" (ein Märchen)
Dann würde die Geschichte im Widderforum stehen
|
27.01.2017, 21:17
|
|
|
RE: "Der Schafslöwe" (ein Märchen) |
27.01.2017, 21:30
|
|
|
RE: "Der Schafslöwe" (ein Märchen)
(27.01.2017 21:00)Amaterasu schrieb: Dann würde die Geschichte im Widderforum stehen Mit Sicherheit nicht, weil es dann kein Lamm mehr gäbe. |
27.01.2017, 22:07
|
|
|
RE: "Der Schafslöwe" (ein Märchen)
(27.01.2017 21:00)Amaterasu schrieb: Dann würde die Geschichte im Widderforum stehen Die Moral wäre jedenfalls eine komplett andere... |
28.01.2017, 18:47
|
|
|
RE: "Der Schafslöwe" (ein Märchen)
Hey
also, ich fand die Geschichte ist ja schon ganz drollig.....! Ganz begriffen, hab ich sie nicht so ganz... weil... bin ein Mann und Widder. Nicht unliterarisch, nöö...das nicht...trotzdem, irgendwie zu subtile. Trotzdem Nöö, toll geschrieben. Ist es eine Metaphe für eine Löwin, die eigentlich ein Widder sein will? Ich finde Löwen und Widder nicht sooo weit auseinander. Aber Frauen, also Löwin und Widderfrau, (Widderin ist ein abstarkter Begriff, weil nur Der Mufflon-Mann, ein Widder ist, ein männliches Schaf, aber eben kein Schafbock! Bei Mufflon-mein Avatar- ist es ein Widder, kein Bock!) ist doch schon etwas anders, sehr sogar. Ebenso bei den Männern. Löwen sind viiiiiel entspannter und ausgeglichener! 100 pro! Das gemeinsame, finde ich, ist das inspirierende und auch das sinnliche. Im Bett passen die beiden suuuper zusammen, auch schon außerhalb vom SZ. Von dieser Konstellation her gesehen, hab ich die Metaphe nicht so anz verstanden...Sorry! Rudi |
28.01.2017, 18:57
|
|
|
RE: "Der Schafslöwe" (ein Märchen)
(28.01.2017 18:47)rollofi schrieb: Ist es eine Metaphe für eine Löwin, die eigentlich ein Widder sein will? Nein. Es ist unter anderem eine Metapher dafür, dass nich unser Umfeld darüber bestimmt wer wir sind, sondern wir sind wer wir in unserem Kern sind. Wir sind nicht immer das was wir tun oder was wir denken, dass wir sind, weil was wir tun oder denken, das haben wir oft nur von unserem Umfeld, von unseren Eltern übernommen, aber das entspricht nicht immer unsere eigene Wahrheit. Auch dass wir manchmal denken und glauben, dass wir jemanden sind, den wir gar nicht sind. Fand ich passend zum Löwe-Prinzip, beim Löwen geht es sehr stark um das Ich und um den Ausdruck des Ichs. Das Selbstbewusstsen, also selbst-bewusst-sein, sich des eigenen Selbst bewusst zu sein. |
04.02.2017, 00:55
|
|
|
RE: "Der Schafslöwe" (ein Märchen)
Ein Löwe, der nicht weiß, dass er Löwe ist, wird auch nicht das Selbstbewusstsein eines Löwen entwickeln können...
|
|
|
|